Ob die von Jahr zu Jahr zunehmenden Verkaufszahlen von Vinyl-Platten wirklich eine dauerhafte Erscheinung bleiben werden, ist derzeit noch nicht abzusehen. Es lässt sich aber beobachten, dass sich rund um die „schwarzen Scheiben“ aktuell eine ganz neue Kultur herausbildet, die sich keineswegs nur auf Plattenbörsen, Sammlerforen im Internet oder die „Record Store Days“ ↑ bzw. die „Plattenladenwoche“ ↑ beschränkt.
So sorgt etwa das Magazin „Mint – Magazin für Vinylkultur“ ↑ seit rund einem Jahr für Furore und hat bei vielen Interessenten für positive Überraschungen gesorgt. Es zeigt sich, das tatsächlich ein ganz neuer Magazin-Stil rund um die doch eigentlich antiquierten Schallplatten entstehen kann, wenn mit einem ganz weiten Horizont musikalische, kulturelle, soziale und technische Aspekte der „Vinylkultur“ beleuchtet werden. Die Beiträge sind hochwertig, gut recherchiert und gleichzeitig lässig geschrieben, eine willkommene Alternative zu den oftmals nur noch trendorientierten klassischen Musikzeitschriften.
Mindestens ebenso spannend sind die „Classic Album Sundays – A Listening Experience“ ↑, die die amerikanische Radioproduzentin und DJane Colleen Murphy 2010 von London aus ins Leben gerufen hat. Im Prinzip geht es darum, dass sich Gleichgesinnte sonntags an einem bestimmten Ort treffen, um dort gemeinsam legendäre Rock-LPs auf bzw. mittels einer High-End-Anlage anzuhören. Mittlerweile finden diese Veranstaltungen weltweit in 15 verschiedenen Großstädten statt. Anlässlich der Deutschland-Premiere im Januar 2017 in der Berliner „Baumhaus Bar“ ↑ hat das Rock-Magazin „eclipsed“ ↑ einen Beitrag zu den „Classic Album Sundays“ veröffentlicht, in dem Colleen Murphy einige Hintergrundinfos zu ihrer Idee preisgibt („Immer wieder sonntags“, eclipsed Nr. 189, April 2017).
„Das Hören kompletter Alben sei eine aussterbende Disziplin, so Murphy weiter. Im Vinylzeitalter war es gang und gäbe, Platten gemeinsam zu hören. Eine LP auszupacken war ein Mysterium. Eine Albumseite hörte man in der Regel von Anfang bis Ende, einzelne Tracks auszuwählen war umständlich. Platten waren teuer. Nicht jeder konnte sich jedes Album leisten. Man traf sich, und jeder brachte seine Platten mit. ‚Heute hören Leute ihre Playlists, und das meist allein unter Kopfhörern als MP3‘, nimmt die Gastgeberin den Faden wieder auf. ‚Sie wählen einzelne Tracks aus, statt sich auf die komplette künstlerische Erfahrung einer LP einzulassen. Ich will jüngeren Menschen die Möglichkeit eines Events geben, auf dem sie nicht nur mehr über ein Album und seinen kulturellen Hintergrund erfahren, sondern es auch ganz anders hören. Einige dieser Platten haben ja nicht nur die Musik verändert, sondern die ganze Kultur und politischen Ansichten einer Epoche'“.
Über die Auswahl der „Classic Albums“ ↑ kann man sicher trefflich debattieren, aber immerhin machen sich Murphy und ihr Team viele Gedanken über das jeweilige Album und orientieren sich keineswegs nur an Verkaufszahlen. In Berlin wurde David Bowie’s „The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars“ zum Besten gegeben. Dank ihrer guten Kontakte konnte Colleen Murphy mit Ken Scott, dem Produzenten der Platte, einen Überraschungsgast und Zeitzeugen erster Güte präsentieren. Die High-End-Anlage lieferte in Berlin das Unternehmen „Avantgarde Acoustic“ ↑, dessen Hornlautsprecher in etwa so viel kosten wie so mancher Kleinwagen …
Die Kooperation mit immer wieder anderen Produzenten solcher HiFi-Anlagen, wie es früher hieß, ist wohl auch, obwohl tragender Bestandteil des ganzen Konzeptes, so etwas wie eine Schwachstelle des doch eigentlich recht undergroundigen, ja subversiven Events – „Musik hören wie noch nie zuvor“. Mal sehen, ob und wie lange Colleen Murphy ihre Selbständigkeit bewahren kann.
Die Grundidee des Ganzen ist jedoch außerordentlich faszinierend, und man wünscht sich so etwas durchaus auch in kleinen, privaten Zirkeln … 😉
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Wilfried