Dinosaurier

Nach dem „Sachwörterbuch der Literatur“ von Gero von Wilpert sind Klischees „vorgeprägte Wendungen, abgegriffene und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden.“ Auch in der Rockmusik gibt es jede Menge solcher Klischees, von denen z.B. die Gleichsetzung von Rock mit „Sex, Drugs & Rock’n’Roll“ sicher zu den bekanntesten, aber auch nichtssagendsten gehört.

Für ein weiteres, gern verbreitetes Klischee müssen gar die Dinosaurier herhalten. So galten Bands wie Emerson, Lake & Palmer, Genesis oder Pink Floyd Ende der 70er Jahre angesichts des maßlosen Pomps, den sie auf die Bühne brachten, als größenwahnsinnig und Irrweg der Evolution – eben als Dinosaurier.

„Als Dinosaurier-Bands bezeichnete man traditionell Erscheinungen aus dem rockgeschichtlichen Mesozoikum, Bands, die auf dem Planeten Pop erstmals in den sechziger Jahren in Erscheinung traten und sich vom wahren, erdigen Rock ’n’ Roll abwandten. Ihre Ökonische waren überwiegend Psychedelic, Progressive oder Art-Rock. Doch wird der Gattungsbegriff mittlerweile recht großzügig gehandhabt. So zählen, wegen ihrer lebenslangen Hypertrophie, auch die Rolling Stones dazu“ (ZEIT Online, Ralph Geisenhanslüke, Der Sommer der Dinosaurier, 28.8.2009).

Konnte man den Überdruß an der Gigantomanie damals durchaus nachvollziehen und sich an der Vielzahl neuer Bands erfreuen, die quasi als Gegenbewegung wie aus dem Nichts auftauchten und neue, frische Musik produzierten, so kann man die heutige Verwendung dieses Begriffs – zum Klischee geronnen – nur noch als äußerst nervig bezeichnen.

Natürlich will auch heute niemand abgetakelte oder jeder Bodenhaftung verlustig gegangene Musiker vor sich auf der Bühne sehen, die erkennbar jede Inspiration verloren haben und ganz offensichtlich nur ihren aufwendigen Lebensstil finanzieren wollen bzw. müssen. Was aber ist mit den Bands, die eigentlich immer (zum Teil sehr gute) Musik gemacht haben und nur zeitweise nicht „angesagt'“ waren, heute aber bei ihren Konzerten frenetisch gefeiert werden? Die sich keineswegs mühselig aus ihrem Lotterleben herausquälen müssen, sondern gereift, abgeklärt und technisch perfekt „ihre“ Musik spielen? Wer die Konzerte von Eric Clapton vor einigen Jahren zusammen mit Steve Winwood gesehen hat oder die Konzerte mit Cream im vergangenen Jahr, wer die rauschenden/rauschhaften Konzerte von Gong, MAN und vielen anderen Bands aus einer versunkenen Zeit erleben durfte, weiss doch, dass die Kritik an diesen „Dinosauriern“ ihr Ziel gänzlich verfehlt.

Wie immer aufschlussreich sind die Leser-Kommentare zu dem besagten ZEIT-Online-Artikel, die mehr über die Verfasser aussagen, als diesen wohl bewusst sein dürfte:

„Die Stones, Floyds, Whos und wie sie alle heißen, die selbst und an sich nerven nicht. Die tun ja keinem was und verfolgen auch niemanden. Was nervt, sind die rockkonservativen Exjugendlichen, die bei solchen Konzerten vor der Bühne stehen und in Rührseligkeit und Nostalgie baden, als wäre die Fähigkeit, guten Rock’n’Roll zu produzieren, von ihren Lieblingsbands komplett aufgesaugt worden, so dass die, die danach kamen, zwangsläufig nur Mist produzieren mussten. Typen also, die wie festgeleimt am 40-55-Jährigen-Formatradio oder ihrer seit 1980 nicht mehr wesentlich veränderten Plattensammlung kleben und denken, was sie da aufgetischt kriegen, sei das wahre Leben in Sachen Pop. Gewesen. Und die den Jüngeren dann die Ohren volljallern, dass ‚ihr ja gar nicht mehr wisst, was gute Musik ist‘. Es ist das Spießertum ihrer Anhänger, das einem die Dinosaurier derart gründlich verleidet“ („gewuerzolive“).

„Jede Generation bleibt ein lebenlang bei den Helden ihrer Jugend, dass wird bei uns sicher mal genauso sein. *schauder* Aber das können doch nicht die besten Musiker ihrer Zeit gewesen sein, die Leichen die da wieder ausgegraben werden, überzeugen doch nicht mit ihrer Musik“ („Guderjan“).

„MAN HÖRE SICH DOCH MANCHE ZEITGENÖSSISCHEN “ RETTER DES ROCK AND ROLL “ AN ; DANN WEISS MAN, WENN MAN SICH EIN WENIG IN DER GESCHICHTE DER POPULÄRMUSIK AUSKENNT, WO DIE IHREN MOST HOLEN. ES KOMMT MIR SELTEN UNTER, WIRKLICH AUTHENTISCHE NEUE MUSIK ZU HÖREN – WARUM WIRD DENN ANDAUERND GECOVERT?: WEIL HEUTE KEINEM MEHR WAS WIRKLICH GUTES EINFÄLLT, VON EINIGEN AUSNAHMEN ABGESEHEN…
ICH HÖRE MIR LIEBER DEI 60’S + 80’S – ORIGINALE AN : SIND AUCH ZU 90% BESSER!
AUßERDEM: VIELLEICHT HABEN DIE ROCK-OPAS EINFACH NUR LUST WEITER MUSIK ZU MACHEN ?
“ …her life were saved by rock’n roll.(SWEET JANE-VU)“ („hollowhills“).

Es mag verständlich sein, wenn auf der Schulparty der Lehrer plötzlich aufspringt und laut kreischend „Sympathy for the devil“ bekundet und alle jüngeren Anwesenden die Augen rollen. Der Vorwurf, der gerade von jüngeren Menschen gerne erhoben wird, ist ja der, dass die Menschen, die überwiegend Musik aus den 60er, 70er oder 80er Jahren hören, in ihrer Entwicklung stehen geblieben sind und kein Interesse mehr an neuer Musik haben.

Vielleicht liegt es jedoch einfach an der Tatsache, dass es adäquate, gute, ernst zu nehmende Musik in der Gegenwart nicht gibt – oder das sie dem durchaus geneigten Hörer nicht zugänglich ist, weil sie nicht im Radio oder in den Discos läuft, sondern nur in abgelegenen Internet-Nischen zu finden ist?

Mit dem folgenden Youtube-Video lässt sich wunderbar die Frage verbinden, welche aktuelle Band denn einen Song mit einer derartigen Brillanz, Intensität und Dramatik komponieren könnte. Auf Anworten oder diesbezügliche Vorschläge sind wir sehr gespannt!

Wir sehen und hören Genesis 1972 mit „The musical box“ in einer raren Live-Version aus dem belgischen Fernsehen, die die Band lange vor ihrer „pompösen“ Phase zeigt und die die Musik – wie ich finde – deshalb viel besser zur Geltung bringt …

Wilfried

P.S.: Übrigens – falls es jemanden interessieren sollte – am 26.11.2010 treten Deep Purple (zusammen mit Marillion) in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg auf … 🙂

1 Gedanke zu „Dinosaurier“

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